§ 177 StGB – Sexueller Missbrauch oder Übergriff bei Ausnutzung fehlender Durchsetzungsfähigkeit?
Eine Vorschrift, welche im Zuge der 2016 erfolgten Reform des Sexualstrafrechts besonders durchgreifende Änderungen erfuhr, ist § 177 StGB.
Dieser regelt in seiner Neufassung über die Strafbarkeit wegen Vergewaltigung hinaus auch die Strafbarkeit wegen sexuellen Übergriffs und sexuellen Missbrauchs.
Angesichts der Neufassung der Norm ergeben sich Abgrenzungsprobleme insbesondere zwischen den Tatbestandsformen des sexuellen Übergriffs und des sexuellen Missbrauchs. Der Bundesgerichthof befasste sich in seinem Beschluss vom 12. Februar 2020 (2 StR 5/20) im Zuge dessen mit der Abgrenzung beider Tatbestandsformen, wenn der Täter die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Opfers infolge des Konsums von Rauschmitteln ausnutzt.
Wegen sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB macht sich ein Täter strafbar, welcher gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser vornimmt. Gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB wird ein Täter wegen sexuellen Missbrauchs ebenso bestraft, wenn er zur Vornahme sexueller Handlungen ausnutzt, dass die Person aufgrund ihres körperlichen oder psychischen Zustands in der Bildung oder Äußerung des Willens erheblich eingeschränkt ist. § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB knüpft hierbei ausschließlich an die Fähigkeit zur Bildung und Äußerung eines entgegenstehenden Willens an. Im Zuge dessen wird die Fähigkeit des Opfers einen Abwehrwillen gegenüber dem Täter durchzusetzen nicht erfasst.
Angesichts der Anknüpfung an die Überwindung eines entgegenstehenden Opferwillens durch den Täter, unterfällt das Hinwegsetzen über den artikulierten entgegenstehenden Willen des Tatopfers vielmehr unabhängig von einer zustandsbedingten habituellen Unfähigkeit zur Durchsetzung des Willens dem Tatbestand des sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB (BGH Beschl. v. 8. November 2017 – 2 StR 111/17).
Deshalb wertete der Bundesgerichthof das Handeln des Angeklagten in dem, dem Beschluss zugrunde liegenden Sachverhalt als sexueller Übergriff und nicht als sexueller Missbrauch gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB.
Der Angeklagte setzte sich über den ausdrücklich geäußerten entgegenstehenden Willen der stark alkoholisierten Nebenklägerin hinweg. Diese hatte sexuelle Handlungen unmissverständlich abgelehnt, war aber nicht in der Lage, sich körperlich gegen den Angeklagten zur Wehr zu setzen.
Der Bundesgerichtshof stellte im Zuge dessen klar, dass mangelnde Durchsetzungsfähigkeit des Opfers § 177 Abs. 1 StGB unterfällt und hebt hiermit als zentrales Abgrenzungskriterium zwischen § 177 Abs. 1 StGB und § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB die Äußerung eines entgegenstehenden Willens durch das Opfer hervor.
Ist das Opfer infolge eines Rauschzustandes in der Fähigkeit einen den sexuellen Handlungen entgegenstehenden Willen zu bilden gehemmt, so liegt Strafbarkeit gemäß § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB nahe. § 177 Abs. 1 StGB ist hingegen anzunehmen, wenn das Opfer zwar zur Willensbildung fähig ist und diesen auch äußert, jedoch nicht in der Lage ist diesen, mitunter rauschbedingt, durchzusetzen.
Rechtsanwalt Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht Berlin