BVerfG hebt Kammergerichtsbeschluss auf: Entschädigung für menschenunwürdige Haftbedingungen
Freunde von uns haben in ihrer Wohnung eine kleine Abstellkammer von gut 5 qm Größe mit einem kleinen Fenster. Wir nennen diesen Raum zärtlich „Erasmus-Kammer“, weil wir annehmen, dass man ihn angesichts des angespannten Berliner Wohnungsmarktes für einen nicht allzu schmalen Taler an Erasmus-Studenten vermieten könnte. Unsere Freunde machen das natürlich nicht, weil sie der Meinung sind, dass man auf gut 5 Quadratmetern nicht menschenwürdig leben kann.
Die Berliner Justizverwaltung sah das bekanntlich bis vor kurzem anders. Es bedurfte daher einer Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs um festzustellen, dass die mehrmonatige Unterbringung in einer Einzelzelle von 5,25 qm ohne abgetrennte Toilette bei täglichem Einschluss zwischen 15 und 21 Stunden die Menschenwürde des Inhaftierten verletzt.
Man kann nun behaupten, dass das auch vorher offensichtlich war, aber das Berliner Verfassungsgericht hatte damals eingeräumt, dass die Justizverwaltung nicht von einem Tag auf den anderen den verfassungswidrigen Zustand beseitigen könne. Eine Umsetzungsfrist von 2 Wochen hat es jedoch als ausreichend angesehen, um die zahlreichen Inhaftierten in größere Zellen zu verlegen. Zwei Wochen ab Kenntnis der Entscheidung des Berliner Verfassungsgerichtshofs, die am 05. November 2009 veröffentlicht worden war.
Dennoch wurde – jedenfalls – ein Inhaftierter zwischen dem 09. November 2009 und dem 23. November 2009 in einer solch kleinen Zelle untergebracht, die 2-Wochen-Umsetzungsfrist wurde also um vier Tage überschritten.
Wie ist hierauf zu regieren? Der Inhaftierte verlangte vor dem Kammergericht die Feststellung menschenunwürdiger Haftbedingungen sowie eine Geldentschädigung. Das Kammergericht stellte die Menschenunwürdigkeit fest, lehnte jedoch eine Geldentschädigung mit der Begründung ab, dem berechtigten Rechtsschutzanliegen des Inhaftierten sei bereits mit der Feststellung der menschenunwürdigen Haftunterbringung „angemessen Rechnung getragen“. Mangels Amtspflichtverletzung komme einen Entschädigungsleistung nicht in Betracht, schließlich sei unklar gewesen, ab welcher Größe eine Zelle nun menschenwürdig ist und die Fristüberschreitung sei auch nur geringfügig. Hiergegen erhob der Inhaftierte Verfassungsbeschwerde, diesmal vor dem Bundesverfassungsgericht.
Für die Zeit der Übergangsfrist stimmt das Bundesverfassungsgericht mit dem Kammergericht überein. Es – bzw. vielmehr die Richter Kirchhof, Masing und die Richterin Baer – kommt jedoch zu der zutreffenden Lösung, dass nach Ablauf der Übergangsfrist selbstverständlich eine Amtspflichtverletzung anzunehmen sei. Hierbei komme es auch nicht auf die Dauer der Überschreitung an. Überschritten ist Überschritten.
Hätte das Bundesverfassungsgericht hier eine Einschränkung vorgenommen, hätte es die Fristsetzung des Berliner Verfassungsgerichts (und letztlich auch seine eigenen) lächerlich gemacht. Denn wie würden andere Gerichte darauf reagieren, wenn sie selbst eine Umsetzungsfrist verhängen? Müssten zu erwartende Fristüberschreitungen gleich in die Bemessung der Frist einbezogen werden? Als würde man die Höchstgeschwindkeit auf 50 km/h festlegen, damit alle tatsächlich maximal 69 km/h fahren 😉 Und wer will die vielen Urteile schreiben, die sich damit auseinandersetzen müssen, ob eine Fristüberschreitung nun geringfügig war oder nicht mehr und damit entschädigungsfähig? Niemand will das, deshalb muss bereits auch die geringfügige Überschreitung materiell entschädigt werden, weil „anderenfalls ein Verkümmern des Rechtsschutzes der Persönlichkeit zu befürchten wäre.“
Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 14. Juli 2015 – 1 BvR 1127/14
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Hinweis: Wenn mir jemand den Link zur KG-Entscheidung schickt, veröffentliche ich den hier auch noch.