Das heimliche Abstreifen eines Kondoms (sog. Stealthing) stellt einen sexuellen Übergriff dar
Die Sexualdelikte spielen während dem Studium keine allzu große Rolle, sind in der Praxis jedoch von großer Bedeutung. Besonders relevant ist hierbei der § 177 StGB, der im Zuge der 2016 erfolgten Reform des Sexualstrafrechts besonders durchgreifende Änderungen erfuhr. Der § 177 StGB regelt in seiner Neufassung neben der Strafbarkeit wegen Vergewaltigung auch die Strafbarkeit wegen sexuellen Übergriffs und sexuellen Missbrauchs.
Wegen sexuellen Übergriffs wird gemäß § 177 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft, wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt.
Das Berliner Kammergericht sah sich in seiner Entscheidung vom 27. Juli 2020 (4 Ss 58/20, 161 Ss 48/20) mit der Frage konfrontiert, ob auch das heimliche Abstreifen eines Kondoms (sog. Stealthing) einen sexuellen Übergriff gemäß § 177 Abs. 1 StGB darstellt.
In dem zugrundeliegenden Fall hatten sich der Angeklagte und eine Frau auf der Online-Dating-Seite „Lovoo“ kennengelernt und zu einem Treffen in der Wohnung des Angeklagten verabredet. Dort kamen sich die beiden körperlich näher und hatten schließlich einvernehmlichen Geschlechtsverkehr. Zuvor hatte die Frau dem Angeklagten mehrfach deutlich gesagt, dass sie auf keinen Fall Geschlechtsverkehr ohne Kondom haben wolle. Dennoch entfernte der Angeklagte im Verlauf des Geschlechtsverkehrs heimlich das Kondom und vollzog den Geschlechtsverkehr ungeschützt ohne Kondom bis hin zum Samenerguss. Dabei war ihm aufgrund des früheren wiederholten eindringlichen und ernsthaften Insistierens der Frau bewusst, dass der von ihm herbeigeführte ungeschützte Geschlechtsverkehr sowie die Ejakulation in ihrer Vagina gegen den Willen der Frau erfolgten.
Das Amtsgericht Tiergarten hatte den Angeklagten daher wegen sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, ausgesetzt zur Bewährung, verurteilt. Das Landgericht Berlin hatte die Strafe dann im Berufungsverfahren auf sechs Monate Freiheitsstrafe heruntergesetzt, aber die Rechtsauffassung des erstinstanzlichen Urteils weitgehend bestätigt.
Auch das Berliner Kammergericht schloss sich der Argumentation der Vorinstanzen an und führte in seiner Entscheidung aus, dass das Handeln des Angeklagten einen sexuellen Übergriff darstellt. Die Frau sei zwar mit dem Geschlechtsverkehr als solchem einverstanden gewesen, jedoch umfasse das von § 177 Abs.1 StGB geschützte Rechtsgut der sexuellen Bestimmung auch die Freiheit der Person, über Zeitpunkt, Art, Form und Partner sexueller Betätigung nach eigenem Belieben zu entscheiden. So sei der Rechtsgutinhaber nicht nur frei in seiner Entscheidung darüber, ob überhaupt Geschlechtsverkehr stattfinden soll, sondern auch darüber, unter welchen Voraussetzungen er mit einer sexuellen Handlung einverstanden ist. Insbesondere die Tatsache, dass der Angeklagte die Frau nicht nur gegen ihren Willen in ungeschützter Form penetriert, sondern im weiteren Verlauf dieses ungeschützten Geschlechtsverkehrs darüber hinaus in ihren Körper ejakuliert, habe die Tathandlung wesentlich geprägt. Daran, dass die Frau gegen ihren Willen das Ejakulat des Angeklagten in den Körper aufnehmen musste, zeige sich, dass es sich beim Fehlen des Kondoms nicht nur um eine bloße Modalität der an sich einvernehmlichen Penetration handele.
Die Revision des Angeklagten hatte folglich keinen Erfolg.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg