Den eigenen Anwalt beleidigt? BVerfG hebt Urteil aufgrund „vollständigen Abwägungsausfalls“ der Strafgerichte auf
Beleidigungen können schnell ausgesprochen sein – sei es aus Wut, Frustration oder im Eifer des Gefechts. In einem solchen Fall droht dem Äußernden ein Strafverfahren und eine Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 Strafgesetzbuch (StGB). Es kann dann zu einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe kommen.
Bei einer Beleidigung im Sinne des § 185 StGB handelt es sich um einen Angriff auf die Ehre eines anderen durch die Kundgabe eigener Missachtung oder Nichtachtung. Allerdings erfüllt nicht jede Äußerung mit ehrverletzendem Charakter den Straftatbestand der Beleidigung. Es muss vielmehr grundsätzlich eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit des Äußernden aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) und dem Persönlichkeitsrecht des Empfängers erfolgen. Nur wenn das Gewicht der persönlichen Ehre des Betroffenen schwerer wiegt als die Meinungsfreiheit des Äußernden, liegt eine strafbare Beleidigung gemäß § 185 StGB vor.
Wann dies der Fall ist, muss durch die Gerichte stets anhand des konkreten Falls beurteilt werden. Dass eine solche Abwägung durch die Gerichte aber nicht immer erfolgt, zeigt der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 16. Januar 2025 (Az. 1 BvR 1182/24).
In dem Fall ging es um eine in Polen geborene Frau, die über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügt und im Jahr 2019 einen Rechtsstreit mit einer Versicherung führte. Aus diesem Grund hatte sie einen Rechtsanwalt mit ihrer rechtlichen Vertretung beauftragt. Mit den Leistungen ihres Anwalts war die Frau jedoch nicht zufrieden, insbesondere bemängelte sie, dass er nicht schnell genug arbeitete. Außerdem ging sie von fehlerhaften Abrechnungen zu ihren Lasten aus. In vier verschiedenen E-Mails hat sie ihren Unmut kundgetan:
- „Ich habe das Gefühl, dass sie bauen mir absichtlich die Schaden.“
- „Sie bauen mir absichtlich Schaden.“
- „Weil sie mich mit Ihrem Gelderschleichen versuchen zu betrogen (…).“
- „jetzt werden wir ihre Betrug klären, ihre Inkompetenz (…).“
Aufgrund dieser Äußerungen verurteilte das Amtsgericht Mönchengladbach die Frau wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB in vier Fällen zu einer Geldstrafe. Das Amtsgericht begründete sein Urteil damit, dass die Frau die vier E-Mails geschrieben habe, um den Anwalt in seiner Ehre und insbesondere in seiner Berufsehre als Anwalt zu verletzen und herabzuwürdigen. Die Frau habe den Anwalt eines strafbaren Verhaltens bezichtigt, indem sie ihm unterstellt habe, er arbeite absichtlich gegen seine Mandanten. Dass sie dem Anwalt nicht nur krimineller Absichten, sondern auch einer absichtlichen Verletzung der strafrechtlich und standesrechtlich besonders geschützten Pflichten aus dem Mandatsverhältnis bezichtigt habe, sei zudem ein eindeutiges Zeichen von Missachtung mit stark abwertendem Charakter. Ihre Äußerungen seien nicht durch ihre Unzufriedenheit im Rahmen des Mandatsverhältnisses gedeckt gewesen, es sei der Frau vielmehr möglich gewesen, die Ergebnislosigkeit ihrer Bemühungen auf nicht beleidigende Weise zu kritisieren.
Die gegen das Urteil des Amtsgerichts gerichtete Berufung der Frau wurde durch das Landgericht Mönchengladbach ohne große Begründung und durch wortwörtliche Wiedergabe der Urteilsbegründung des Amtsgerichts als unbegründet verworfen. Das Oberlandesgericht Düsseldorf verwarf die Revision lediglich mit der – so das BVerfG – „formelhaften“ Begründung, die Überprüfung habe keine Rechtsfehler ergeben. Die Frau entschied sich daher dazu, die Entscheidungen der drei Instanzen mit einer Verfassungsbeschwerde anzugreifen. Sie rügte, dass ihr Grundrecht auf freie Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verletzt wurde.
Das BVerfG entschied zugunsten der Frau und stellte eine Verletzung der Meinungsfreiheit durch die strafrechtliche Verurteilung wegen Beleidigung gemäß § 185 StGB fest. Zur Begründung stellte das BVerfG insbesondere auf den „praktisch vollständigen Abwägungsausfall“ der Vorinstanzen ab. Diese hätten es insoweit versäumt, das Grundrecht der Frau auf Meinungsfreiheit kontextspezifisch gegen das Persönlichkeitsrecht des Anwalts abzuwiegen.
Eine die Meinungsfreiheit berücksichtigende Abwägung sei hier nicht unter dem Gesichtspunkt der Schmähung oder Formalbeleidigung entbehrlich gewesen. Die Äußerungen seien im Kontext des Vertragsverhältnisses und der Kritik der Frau an der Mandatsführung erfolgt und würden daher noch einen sachlichen Bezug aufweisen. Auch wurden keine schwerwiegenden Schimpfwörter verwendet, die als Formalbeleidigung eingestuft werden können.
Die Vorinstanzen hätten daher bei der Einstufung der Äußerungen der Frau als ehrherabsetzender und strafbewehrter Ausdruck der Missachtung des Anwalts die konkreten Umstände des Falls, insbesondere die Veranlassung durch die Mandatsführung des Betroffenen, die fehlende Breitenwirkung der nur bilateral erfolgten Äußerungen und die Betroffenheit der Beschwerdeführerin durch den Verlauf des versicherungsrechtlichen Rechtsstreits berücksichtigen müssen. Abwägungsrelevant sei ferner die Frage gewesen, ob es der Frau aufgrund ihrer beruflichen Stellung und Bildung zuzumuten war, die äußerungsrechtlichen Grenzen zu kennen und zu wahren. Insoweit habe sich als abwägungsrelevanter Aspekt auch die Frage nach dem Sprach- und Ausdrucksvermögen der deutsch-polnischen Frau aufgedrängt.
Im Ergebnis hob das BVerfG die Urteile der Instanzengerichte auf und verwies die Sache zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht. Es bleibt abzuwarten, ob die Frau durch das Amtsgericht erneut wegen Beleidigung verurteilt werden wird oder ob das Amtsgericht zu dem Schluss kommt, dass die Meinungsfreiheit der Frau in dem Fall überwiegt.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg