Der Freispruch am Ende des Strafverfahrens: Zahlen, bitte!
Kürzlich stieß ich in der April-Ausgabe des Strafverteidigers (immerhin die April-Ausgabe aus diesem Jahr..) auf einen kurzen Aufsatz von Jörg Kinzig und Thaya Vester, in dem sie über allererste Forschungsergebnisse ihrer DFG-geförderten Studie zum Freispruch berichten. Der Artikel ist (leider nur mit entsprechendem Zugang) hier einzusehen.
Kinzig und sein Team interessiert, wie und warum es zu Freisprüchen kommt, nachdem bereits Untersuchungshaft vollstreckt worden ist. Denn obgleich „U-Haft Rechtskraft schafft“, enden einige Hauptverfahren trotz vollstreckter U-Haft mit einem Freispruch – im Jahr 2012 zum Beispiel in 364 Fällen (bzw. bei 364 Angeklagten).
Herzstück der Studie soll eine Analyse von ca. 700 solcher Fälle sowie eine Zahl von Experteninterviews sein. Um aber überhaupt ein Bild von der Bedeutung des mengenmäßigen Auftretens „ihres“ Phänomens, erhalten, und vermutlich auch zur Unterfütterung des DFG-Antrags, haben Kinzig und Vester zunächst die Strafverfolgungsstatistik zum Thema Freispruch ausgewertet und die Zahlen in StV 2015, 261 dargestellt.
Auffällig ist aus Sicht von Kinzig und Vester dreierlei.
Erstens ist die Wahrscheinlichkeit eines Freispruch zwar erwartbar niedrig – sie liegt recht konstant bei etwa 3 %. Wenn man jedoch bedenkt, dass dies fast 30.000 Angeklagten jährlich entspricht, ist die Zahl doch beachtlich.
Zweitens ist bemerkenswert, dass es messbare Unterschiede zwischen den Freispruchquoten (nach vollstreckter U-Haft) einzelner Deliktstypen gibt. Sie reichen von 0 % etwa bei Verfahren wegen des Vorwurfs einer Beleidigung (ja, es ist verwunderlich, dass Menschen wegen des Vorwurfs der Beleidigung in U-Haft gelangen, im Jahr 2012 immerhin 64), einer Straftat nach dem StVG, einer Straftat gegen die Umwelt, einer Straftat im Amt oder wegen des Vorwurfs eines Aussagedelikts (Meineid, uneidliche Falschaussage) über niedrige Freispruchquoten bei Strafverfahren wegen des Vorwurfs der Urkundenfälschung bis hin zu – verhältnismäßig hohen Freispruchquoten bei vorgeworfenen Straftaten gegen das Leben (4,0 %), falscher Verdächtigung (3,6 %), gemeingefährlichen Straftaten (2,4 %) sowie – natürlich – bei Verfahren wegen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (5,6 % – der höchste Freispruchwert nach U-Haft).
Drittens messen Kinzig und Vester auch Unterschiede in den Freispruchquoten nach vollstreckter U-Haft zwischen einzelnen Bundesländern. Sie reichen von 0,0 % in Mecklenburg-Vorpommern, 0,2 % in Berlin und 0,8 % im Saarland bis zu 2,9 % in Niedersachsen, 3,1 % in Bremen und 3,5 % in Sachsen-Anhalt.
Interpretieren lässt sich das freilich auf – wenigstens – zweierlei Weise. Entweder setzen die Richter in Mecklenburg-Vorpommern an die Anordnung von Untersuchungshaft besonders strenge Voraussetzungen, während die Ermittlungsrichter in Sachsen-Anhalt im Zweifel zulasten des – formal unschuldigen – Beschuldigten entscheiden. Oder die mecklenburger und berliner Richter sind nicht bzw. nur schwer davon zu überzeugen, einen einmal bejahten dringenden Tatverdacht im Zeitpunkt der Urteilsfindung wieder abzulehnen.
Evtl. könnte man hierzu die U-Haft-Quoten der einzelnen Bundesländer ergänzend heranziehen. Bis dahin sollte man von der spontanen und ungemein brillianten Idee, Tat- und Festnahmeort aus statistischen Gründen so zu wählen, dass ein Mecklenburger Richter über die U-Haft und ein Richter aus Sachsen-Anhalt über den Tatnachweis zu entscheiden hat, noch Abstand nehmen. Kinzig und Vester verlieren hierüber – wohl aus Gründen der Seriösität – aber auch kein Wort.
Aber Spaß beiseite: Den dargebotenen Zahlen fehlen, obwohl erste Vermutungen über Kausalitäten aufgestellt werden, Angaben zur Signifikanz der Unterschiede. Auch würde es aus meiner Sicht die Aussagekraft erhöhen, wenn Kinzig und Vester die Unterschiede zwischen den Freispruchquoten in Abhängigkeit von Delikt und Bundesland nicht anhand der stark aggregierten Daten, sondern für jedes Jahr/Bundesland/Delikt einzeln auszuwerteten. Ein erheblicher Mehraufwand zwar, aber einer, der sich lohnen dürfte.
Konstantin Stern
Kinzig/Vester (2015): Der Freispruch – Ein statistischer Überblick zu einem zwar seltenen, aber (nicht nur für den Beschuldigten) bedeutsamen Verfahrensausgang – StV 2015, 261.