Doppelt bzw. dreifach hält besser – wann besteht ein Anspruch des Beschuldigten auf mehrere Pflichtverteidiger?
Wer Beschuldigter in einem Strafverfahren ist, hat nach § 137 StPO das Recht, sich in jeder Lage des Strafverfahrens der Hilfe von bis zu drei Rechtsanwälten als Verteidiger zu bedienen. Der oder die sog. „Wahlverteidiger“ kann bzw. können von dem Beschuldigten frei ausgewählt und beauftragt werden, wobei die Vergütung durch den Beschuldigten erfolgt.
Es gibt jedoch auch Fälle, in denen die Mitwirkung eines Verteidigers nicht der Entscheidung des Beschuldigten überlassen wird, sondern zwingend notwendig ist. Man spricht dann von einer sog. „notwendigen Verteidigung“, die in § 140 StGB geregelt ist. Hintergrund der Regelung ist, dass im Strafprozess ein faires Verfahren gewährleistet werden soll, indem zwischen dem Beschuldigten und den staatlichen Strafverfolgungsorganen eine „Waffengleichheit“ hergestellt wird. Ein solcher Fall der notwendigen Verteidigung liegt beispielsweise vor, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird, also eine Straftat, die im Mindestmaß mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr oder mehr bedroht ist (z.B. ein Raub oder Totschlag). Dabei ist zu beachten, dass der Beschuldigte das Recht hat, sich den Anwalt seines Vertrauens von dem Gericht als notwendigen Verteidiger beiordnen zu lassen. Benennt der Beschuldigte keinen bestimmten Rechtsanwalt, wird das Gericht ihm einen vom Gericht ausgewählten Verteidiger (auch „Pflichtverteidiger“ genannt) beiordnen.
Wie eingangs bereits erwähnt, steht es dem Beschuldigten frei, bis zu drei Wahlverteidiger zu beauftragen. Doch wie sieht es bei der notwendigen Verteidigung aus? Hat ein Beschuldigter dabei auch einen Anspruch auf mehrere Verteidiger? Dies ist in § 144 StPO geregelt. Hiernach können dem Beschuldigten zu seinem Wahl- oder (ersten) Pflichtverteidiger „bis zu zwei Pflichtverteidiger zusätzlich“ bestellt werden, wenn dies „zur Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens, insbesondere wegen dessen Umfang oder Schwierigkeit, erforderlich ist“. Wann dies konkret der Fall ist, geht aus § 144 StPO nicht hervor. Diese Frage ist daher nicht selten Gegenstand von gerichtlichen Beschlüssen. Beispielsweise hat sich auch das Oberlandesgericht Hamburg in seinem Beschluss vom 13. Januar 2020 (2 Ws 3/20) mit den Voraussetzungen der Bestellung zusätzlicher Pflichtverteidiger auseinandersetzen müssen.
In dem Beschluss hat das OLG Hamburg ausgeführt, dass sich die Erforderlichkeit im Sinne des § 144 Abs. 1 StPO für die Bestellung des oder der zusätzlichen Verteidiger zunächst aus dem sachlichen Umfang des Verfahrens oder aus der Schwierigkeit der Sache, aber auch aus dem zeitlichen Umfang des Verfahrens ergeben könne. Für die Bewertung, ob die Bestellung eines zusätzlichen Pflichtverteidigers erforderlich ist, haben sich in der obergerichtlichen Rechtsprechung ausweislich des OLG Hamburg folgende Kriterien herausgebildet:
Soweit sich die Notwendigkeit der Sicherung der zügigen Durchführung des Verfahrens aus dessen sachlichem Umfang oder aus der Schwierigkeit der Sache ergeben kann, komme die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers nur in Betracht, wenn der Prozessstoff so schwierig oder so umfangreich ist, dass er nach Ausschöpfung aller Hilfsmittel ausschließlich bei arbeitsteiligem Zusammenwirken zweier Verteidiger beherrscht werden kann, ein Verteidiger alleine ihn also nicht beherrschen könnte, wobei auch die Zeit zu berücksichtigen ist, die diesem zur Erarbeitung des Verfahrensstoffs zur Verfügung steht. Dabei müsse jeder Verteidiger voll eingearbeitet sein, um sachgerecht verteidigen zu können und er müsse grundsätzlich kontinuierlich an der Hauptverhandlung teilnehmen; eine Aufteilung des Prozessstoffes und eine wechselseitige Vertretung beider Pflichtverteidiger scheide aus.
Im Hinblick auf den zeitlichen Umfang, mithin die lange Dauer einer Hauptverhandlung, komme die Beiordnung eines weiteren Verteidigers in Betracht, wenn eine Hauptverhandlung außergewöhnlich lange währt. Durch die Beiordnung eines weiteren Verteidigers soll der ordnungsgemäße Verfahrensablauf gesichert werden, da erfahrungsgemäß bei höherer Anzahl von Verfahrensbeteiligten und längerer Dauer der Hauptverhandlung die Wahrscheinlichkeit, ein Verteidiger werde planwidrig verhindert sein, steigt.
Allerdings reiche die abstrakt-theoretische Möglichkeit einer späteren Verfahrensgefährdung durch das Ausbleiben eines Verteidigers nicht aus, um schon von Anfang an einen weiteren Verteidiger zu bestellen; daran ist erst zu denken, wenn konkrete Anhaltspunkte für ein Ausbleiben des Verteidigers hinzutreten, wie sie sich vor allem aus einer besonders langen Dauer der Hauptverhandlung ergeben können. Eine starre Grenze, für welche Anzahl von Hauptverhandlungstagen die Erforderlichkeit zu bejahen ist, bestehe dabei aber nicht.
Im Rahmen der Prüfung sei vielmehr zu fragen, ob im Falle einer unvorhergesehenen Verhinderung des bereits bestellten Pflichtverteidigers eine sachgerechte Verteidigung nur durch Vertretung durch einen bereits in das Verfahren eingearbeiteten und kontinuierlich in der Hauptverhandlung anwesend gewesenen Verteidiger sichergestellt werden könnte. Die Beiordnung eines weiteren Pflichtverteidigers sei insofern nur geboten, wenn und soweit andere gesetzliche Reaktionsmöglichkeiten auf die unvorhergesehene Verhinderung eines Verteidigers nicht ausreichen. Zu diesen Reaktionsmöglichkeiten zählen z.B. die Unterbrechung der Hauptverhandlung nach § 229 StPO, das Tätigwerden eines Vertreters des Verteidigers nach § 53 BRAO oder die Bestellung eines anderen Verteidigers erst im Zeitpunkt des tatsächlichen Eintritts der Verhinderung.
Eine Grenze sei jedoch dort zu ziehen, wo das Gebot sachgerechter Verteidigung betroffen ist, weil die Verteidigung – gerade in umfangreichen und schwierigen Sachen – Einarbeitung und kontinuierliche Begleitung der Hauptverhandlung voraussetzt. Die Bestellung eines Sicherungsverteidigers sei in Konstellationen ausgeschlossen, in denen die Beiordnung alleine zu dem Zwecke der gegenseitigen Vertretung der beiden Verteidiger bei einer langen Verfahrensdauer erfolgen soll.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Strafverteidiger in Berlin-Kreuzberg