Finalitätsanforderungen an die Gewaltanwendung beim sexuellen Übergriff unter Gewaltanwendung
Im Zuge der 2016 erfolgten Reform des Sexualstrafrechts beschäftigt sich eine Vielzahl neuerer Urteile des Bundesgerichthofs mit Straftatbeständen, welche im Rahmen dieser Änderungen erfuhren. Besonders weitreichenden Änderungen unterlag unter anderem § 177 StGB. Dieser wurde insbesondre um den Qualifikationstatbestand des § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB ergänzt, wonach auf eine Freiheitsstrafe von nicht unter einem Jahr zu erkennen ist, wenn der Täter bei der Verwirklichung des § 177 Absatz 1 oder 2 StGB gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet.
Hiermit unterscheidet sich der neue Wortlaut des § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB von dem der alten Fassung des § 177 Absatz 1 Nr. 1 StGB dahingehen, dass dieser nicht mehr von „mit Gewalt nötigt“, sondern von „gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet“ spricht.
Dieser neue Wortlaut des § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB war auch Anlass für die, dem vorliegenden BGH-Beschluss 20. Oktober 2018 (4 StR 311/18) zugrunde liegende, neue Rechtsprechung. Der BGH hatte sich damit zu befassen, ob § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB fordert, dass die Gewalt final zum Zweck sexuellen Handlung angewandt wird.
Der Angeklagte in dem, dem Beschluss zugrunde liegenden Sachverhalt, verschloss die Wohnungstür der Wohnung, in welcher er sich mit der Betroffenen befand. Im Anschluss hieran gerieten der Angeklagt und die Betroffene in eine körperliche Auseinandersetzung, infolge derer die Betroffene wegen Sauerstoffmangels das Bewusstsein verlor.
Der Angeklagte war gerade im Begriff die Betroffene anal zu penetrieren, als diese erwachte und sich ihm erfolgreich widersetzte.
Der Angeklagte machte sich wegen sexuellen Übergriffs gemäß § 177 Absatz 1 StGB strafbar. Fraglich war jedoch, ob der Übergriff auch unter Anwendung von Gewalt gemäß § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB erfolgte. Gewalt lag während des Übergriffs in Form der geschlossenen Wohnungstür zumindest vor. Zum Zweck des Übergriffs wurde diese jedoch gerade nicht verschlossen.
In der alten Fassung des § 177 StGB musste die Gewaltanwendung gerade der Duldung oder der Vornahme der sexuellen Handlung dienen. Erforderlich war somit Finalität zwischen der Gewaltanwendung und der sexuellen Handlung im Sinne einer Zweck-Mittel Relation.
Ein entsprechendes Finalitätserfordernis setzt der BGH im Rahmend des neuen § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB nicht mehr voraus. Es ist ausreichend, dass der Täter die Gewalt im Tatzeitpunkt beziehungsweise im Rahmen eines einheitlichen Tatgeschehens vor, bei oder nach der sexuellen Handlung anwendet.
Dies begründet der BGH unter anderem mit dem neuen Wortlaut des § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB der lediglich verlangt, dass der Täter „gegenüber dem Opfer Gewalt anwendet“. Anders als nach der früheren Rechtslage ist dem Wortlaut nun nicht mehr zu entnehmen, dass die Gewalt als Nötigungsmittel eingesetzt werden muss; vielmehr muss diese nur zu dem sexuellen Übergriff hinzukommen.
Dieses sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergebende Ergebnis entspricht auch dem, in den Gesetzgebungsmaterialien zum Ausdruck kommenden Willen des Gesetzgebers. Demnach orientiert sich die Qualifikation des § 177 Absatz 5 StGB zwar an der Ausgestaltung des § 177 Absatz 1 StGB in der bis zum 9. November 2016 geltenden Fassung. Anders als nach früherer Rechtslage soll aber gerade nicht mehr erforderlich sein, dass der Täter das Opfer nötigt. § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB soll vielmehr auch Fälle erfassen, in denen der Täter die Gewalt im Tatzeitpunkt zu anderen als zu Nötigungszwecken einsetzt – beispielsweise zur Steigerung seiner sexuellen Lust.
Mit dem vorliegenden Beschluss wendet sich der BGH gegen eine Literaturausfassung, welche den § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB im Sinne seiner Vorgängervorschrift auslegen will und eine Finalität der Gewaltanwendung bezüglich der sexuellen Handlung fordert. Angesichts der Änderung des Wortlauts des § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB und des gesetzgeberischen Willens, welche mit diesem zum Ausdruck gebracht werden soll, ist eine entsprechende Auslegung mit dem reformierten § 177 Absatz 5 Nr. 1 StGB nicht mehr vereinbar. Dem trägt der BGH Rechnung und schließt sich der im Schrifttum weit überwiegend vertretenen Auffassung an, welche ebenfalls auf ein Finalitätserfordernis verzichtet. Rechtsanwalt Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht Berlin