Gemeinsamer Abend unter Freunden und plötzlich alleine tot: Zur Obhuts- und Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB
Mit dem folgenden Fall setzte sich der Bundesgerichtshof am 21. September 2022 (6 StR 47/22) auseinander:
Dem Angeklagten und dessen ehemaligem Arbeitskollege wurde mit Anklageschrift zur Last gelegt, am Abend mit dem Geschädigten in eine Bar gefahren zu sein. An den Wochenenden haben sie regelmäßig beträchtliche Mengen an Alkohol, nicht selten bis zum Eintritt von Rauschzuständen, konsumiert. Während der Anfahrt tranken die Beteiligten Bier und Wein. In der Bar bestellten sie neben drei Shisha-Pfeifen unter anderem eine Flasche Wodka. Von dieser trank der von den Angeklagten animierte Geschädigte derart viel, dass er auf dem Weg zur Toilette stürzte, die glühende Kohle einer Shisha-Pfeife mit der bloßen Hand aufnahm, vom Stuhl rutschte und eine Zeit lang auf dem Boden liegen blieb.
Beim Verlassen der Bar benötigte der Geschädigte Hilfe beim Anziehen seiner Jacke und beim Treppensteigen, die er von den Angeklagten erfuhr. Andere Gäste der Bar sahen vor diesem Hintergrund davon ab, dem Geschädigten zu helfen. Die Angeklagten stützten den Geschädigten abwechselnd beim Laufen und führten ihn an der Hand.
Während die Gruppe vor dem Parkhaus stand, entfernte sich der Geschädigte unbemerkt. Er stürzte hinter dem Parkhaus eine Böschung hinab und blieb bäuchlings am Ufer eines Flutkanals liegen, wo die Angeklagten ihn wenig später fanden. Die Angeklagten stiegen zu dem Geschädigten hinab, der seinen Kopf kaum heben konnte, schluchzte und mehrfach stöhnend gegenüber einem der Angeklagten „mir geht´s nicht gut“. Dieser filmte mit dem Mobiltelefon einige Szenen. Obwohl den Angeklagten bewusst war, dass sich der Geschädigte nicht mehr selbstständig helfen konnte, unternahmen sie mehrere Minuten lang keine Anstrengungen, um diesem beizustehen. Nachdem ihm geholfen worden war, versuchte der Geschädigte mindestens fünf Sekunden lang, sich selbst aufzurichten, wobei er schließlich in den mehrere Meter breiten Flutkanal fiel. Währenddessen lachte jedenfalls einer der Angeklagten laut auf. Der Geschädigte, der sich nur kurzzeitig mit unkontrollierten Bewegungen über Wasser halten konnte, entfernte sich aus dem Sichtfeld der Angeklagten und ertrank innerhalb der nächsten Minuten. Die Angeklagten suchten ihn einige Zeit im Bereich des Parkhauses und der Einsturzstelle, bevor sie den Heimweg antraten.
Das Landgericht Weiden verurteilte die Angeklagten wegen Aussetzung mit Todesfolge nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 3 StGB. Gegen das Urteil wurde Revision beim Bundesgerichtshof eingelegt.
In seinem Urteil führte der Bundesgerichtshof zunächst die Anforderungen zur Annahme einer Obhuts- und Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB aus:
Es seien die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten. Hilfspflichten wie diejenigen aus der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c Abs. 1 StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht aus. Auch folge sie nicht alleine daraus, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand geleistet wird. Die Obhuts- und Beistandspflicht entstehe erst dann, wenn der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändere, namentlich andere, nicht notwendigerweise sichere Rettungsmöglichkeiten ausschließe oder vorher jedenfalls nicht in diesem Maße bestehende Gefahr schaffe. Nach Ansicht der Karlsruher Richter lag ein solcher Fall vor. Indem die Angeklagten in der Bar dem Geschädigten beim Anziehen seiner Jacke und beim Treppensteigen halfen, sahen die anwesenden Gäste davon ab, dem Geschädigten zu helfen. Sichere Rettungsmöglichkeiten durch die Gäste wurden daher ausgeschlossen. Die Angeklagten veränderten somit die Situation des Geschädigten wesentlich. Aus diesem Grund entstand für die Angeklagten die Garantenstellung, so der BGH.
Der Bundesgerichtshof betonte im Besonderen, dass die Beistands- und Obhutspflicht auch nicht entfiel, als der Geschädigte sich im Parkhaus von der Gruppe entfernte. Zwar könne die Pflicht einer aus einer tatsächlichen Übernahme resultierenden Garantenstellung grundsätzlich aufgekündigt oder widerrufen werden. Die Beistandspflicht erlösche jedoch erst, wenn der auf den Schutz Vertrauende anderweitig eine Gefahrenvorsorge treffen könne, sich nicht mehr in hilfloser Lage befinde oder die Hilfe erkennbar nicht wolle, was im hiesigen Fall jeweils nicht der Fall sei. Vielmehr war der Geschädigte aufgrund seiner erheblichen Intoxikation im Moment des Verlassens der Gruppe in einem Zustand, der ein eigenverantwortliches Handeln ausschloss.
Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil des Landgerichts. Indem die Angeklagten die ihnen mögliche und zumutbare Hilfeleistung versagten, namentlich, weil sie keinen Notruf absetzten, ihn weder beruhigten noch am Aufstehen hinderten, setzten sie den Geschädigten der Gefahr aus, infolge eines Sturzes in den Flutkanal schwere Gesundheitsschäden oder den Tod zu erleiden.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht aus Berlin-Kreuzberg