Hoffnung hinter Gittern
Ein Gastbeitrag von Claire Dourlen, Jurastudentin an der Humboldt-Universität zu Berlin
Teil 3
Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR, Urt. v. 17.12.2009 – 19359/04, NJW 2010, 2495 ff.)
Der Beschwerdeführer wurde 1986 vom LG Marburg wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Raub zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Anschließend wurde seine Unterbringung in die Sicherungsverwahrung angeordnet. Die Höchstfrist der Sicherungsverwahrung betrug nach dem zum Zeitpunkt der Verurteilung geltenden § 67 d Abs. 1 StGB bei erstmaliger Unterbringung zehn Jahre. Diese Frist wurde 1998 gestrichen. Das Bundesverfassungsgericht – BVerfGE 109, 133 – NJW 2004, 739 – entschied, dass die erfolgte nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung verfassungskonform sei. Darauf hin legte der Beschwerdeführer Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein und rügte die Verletzung seiner Rechte aus Art. 5 EMRK und Art. 7 EMRK.
Eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK (Recht auf Freiheit und Sicherheit) ist rechtmäßig, wenn sie nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht vorgenommen wird. Das Wort „nach“ bedeute nach Auffassung des EGMR nicht nur, dass die Freiheitsentziehung auf die Verurteilung folgen muss. Es müsse vielmehr ein ausreichender Kausalzusammenhang zwischen der Verurteilung und der Freiheitsentziehung bestehen. Dieser könne schließlich durchbrochen werden, wenn sich die Entscheidung, keine Freilassung bzw. eine neue Haft anzuordnen, auf Gründe stütze, die mit den Zielen der ursprünglichen Entscheidung unvereinbar sind, oder auf einer Einschätzung beruht, die für diese Ziele unangemessen ist. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung sei insofern rechtswidrig als sie keine Schuldfeststellung mehr zum Inhalt habe. Eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK läge laut dem EGMR vor.
Überdies ging der EGMR von einer Verletzung des Art. 7 EMRK aus. Das BVerfG weigerte sich bisher, die Anordnung der Sicherungsverwahrung als Strafe anzuerkennen. Das deutsche Strafrecht kenne ein zweispuriges Sanktionensystem, das strikt zwischen Strafen und Maßregeln der Besserung und Sicherung wie die Sicherungsverwahrung unterscheide. Strafen hätten Strafcharakter und würden entsprechend der persönlichen Schuld des Täters festgesetzt. Maßregeln der Besserung und Sicherung hingegen hätten vorbeugenden Charakter und seien auf Grund der vom Täter ausgehenden Gefahr unabhängig von seiner Schuld angeordnet.
Dieser Auffassung trat der EGMR entgegen. Er kam zum Ergebnis, dass der Begriff „Strafe“ in Art. 7 EMRK autonom auszulegen sei. Deshalb entscheide der Gerichtshof, ob eine Maßnahme als Strafe einzustufen sei, ohne dabei an die Einstufung im staatlichen Recht gebunden zu sein.
Es sei zunächst festzustellen, dass die Sicherungsverwahrung, wie die Freiheitsstrafe, eine Freiheitsentziehung zur Folge hat. Sicherungsverwahrte werden außerdem in regulären Strafvollzugsanstalten, wenn auch in separaten Abteilungen, untergebracht. Die geringfügigen Privilegien des Vollzugs im Vergleich zu Strafgefangenen, wie etwa das Recht, eigene Kleidung zu tragen und die Zellen noch zusätzlich auszustatten, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keinen wesentlichen Unterschied zwischen dem Vollzug einer Freiheitsstrafe und dem einer Sicherungsverwahrung gibt. Dies werde weiter dadurch veranschaulicht, dass es im Strafvollzugsgesetz sehr wenige Vorschriften gäbe, die sich speziell mit dem Vollzug der Sicherungsverwahrung befassen, und dass, von diesen abgesehen, die Vorschriften über den Vollzug von Freiheitsstrafen entsprechend gelten. Darüber hinaus könne die Sicherungsverwahrung durchaus als zusätzliche Bestrafung für die von der betroffenen Person begangene Straftat verstanden werden. Sie enthielte eindeutig ein Element der Abschreckung, umso mehr als diese seit 1998 unbefristet angeordnet werden kann.
Daraus ließe sich nach Ansicht des EGMR – und entgegen der Auffassung des BVerfG – schließen, dass die Sicherungsverwahrung nach dem deutschen Strafgesetzbuch als „Strafe“ im Sinne von Art. 7 Abs.1 EMRK anzusehen ist. Die nachträgliche Sicherungsverwahrung sei stets konventionswidrig, denn sie wird verhängt, ohne dass eine neue Straftat begangen wird. Ein Verstoß gegen den Grundsatz nulla poena sine lege („Keine Strafe ohne Gesetz“) aus Art. 7 Abs.1 EMRK läge mithin auch vor.
Art. 46 Abs. 1 EMRK besagt, dass die Hohen Vertragsparteien sich verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Deutschland ist folglich an dieses Urteil gebunden. Die Rechtsverletzung muss beendet werden und der Beschwerdeführer für den erlittenen immateriellen Schaden entschädigt werden. Auch wenn das Urteil nur intra partes wirkt, so ist der Staat trotzdem verpflichtet, gleichartige Verletzungen zu beenden.
Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht
Die vom Europarat ausgearbeitete Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ist ihrer Rechtsnatur nach ein völkerrechtlicher Vertrag. In welcher Form dieser in das nationale Recht umgesetzt wird, bleibt jedem Staat überlassen. Die Grundrechte der EMRK gelten in der Normenhierarchie des Grundgesetzes grundsätzlich als einfaches Bundesrecht gemäß Art. 59 Abs.2 S.1 GG.
Der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes verleiht der EMRK aber einen faktischen Verfassungsrang, indem die Grundrechte des Grundgesetzes im Lichte der EMRK ausgelegt werden. Die EMRK kann folglich nicht durch späteres oder spezielleres nationales Recht nach dem Grundsatz lex posterior/ specialis derogat legi priori/ generali umgegangen werden.
Überdies haben deutsche Gerichte und Behörden seit dem Görgülü-Urteil – BVerfG, Beschluss vom 14. 10. 2004 – 2 BvR 1481 – die Pflicht, die Gewährleistungen der Konvention sowie die Entscheidungen des EGMR zu berücksichtigen.
Im Juli und August 2010 lehnte es das OLG Köln ab, die Unterbringung von zwei Sicherungsverwahrten im Lichte des Urteils des EGMR für beendet zu erklären (so auch: OLG Stuttgart, OLG Nürnberg, OLG Celle, OLG Koblenz). Entscheidungen im Rahmen von Indvidualbeschwerden wirken zunächst nur zwischen den Parteien des jeweiligen Individualbeschwerdeverfahrens. Die EMRK in Ausgestaltung durch den EGMR sei zwar im Rang eines förmlichen Bundesgesetzes zu beachten, jedoch könne sie nicht rechtsgestaltend in die innerstaatliche Rechtsordnung hineinwirken. Urteile des EGMR seien demnach nicht von § 2 Abs. 6 StGB erfasst. § 2 Abs. 6 StGB besagt, dass über Maßregeln der Besserung und Sicherung nach dem Gesetz zu entscheiden ist, das zur Zeit der Entscheidung gilt, wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist. Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung verfolge den Zweck, die Allgemeinheit vor gefährlichen Straftätern zu schützen. Die Gerichte seien nicht berechtigt, im Wege der Auslegung des Gesetzes diese gesetzgeberische Intention zu unterlaufen. Das deutsche Recht könne mithin nicht im Einklang mit dem Urteil des EGMR ausgelegt werden und es sei Aufgabe des Gesetzgebers, dieses umzusetzen.
Das OLG Karlsruhe (so auch: OLG Hamm, OLG Frankfurt am Main) vertrat in einem dritten Fall die entgegengesetzte Ansicht. Es könne dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, sich dauerhaft konventionswidrig verhalten zu wollen. Eine Auslegung des deutschen Rechts im Lichte des Urteils des EGMR sei insofern möglich. Der Beschwerdeführer wurde demzufolge entlassen aber nicht entschädigt.
Das EGMR hat am 13. Januar 2011 in diesen drei Fällen keinen Grund gesehen, von seinen Schlussfolgerungen abzuweichen. Die Beschwerdeführer wurden entlassen und entschädigt.
Nationale Neuregelung der Sicherungsverwahrung
Das Urteil des EGMR löste wie bereits geschildert eine besonders starke Resonanz aus. Am 22. Dezember 2010 verabschiedete der Bundestag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen sowie der SPD-Fraktion einen von Unions- und FDP-Fraktion vorgelegten Gesetzentwurf zur Reformierung der Sicherungsverwahrung.
Mit Wirkung vom 01. Januar 2011 wurde insbesondere auf die Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Erwachsenen für die Zukunft verzichtet. Statt dessen trat gleichzeitig das Therapieunterbringungsgesetz in Kraft. Dadurch entstand die Möglichkeit, psychisch gestörte Gewalt- und Sexualstraftäter zum Zwecke der Therapie in geeignete Einrichtungen unterzubringen, soweit dies zulässig und zum Schutz der Allgemeinheit erforderlich war. Im Vordergrund musste die Behandlung stehen, die darauf ausgerichtet sein muss, die betroffene Person möglichst schnell entlassen zu können.
Zentrale Voraussetzung für die Anordnung der Therapieunterbringung war das Vorliegen einer psychischen Störung und einer daraus resultierenden Gefährlichkeit. Unter dem Begriff der psychischen Störung wurden beispielsweise spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz, der Impuls- oder Triebkontrolle verstanden. Weiterhin musste eine Gesamtwürdigung ergeben, dass die betroffene Person infolge ihrer psychischen Störung mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung eines anderen beeinträchtigen werde.
Zu Teil 1