Ist die Weitergabe der Kopie eines nicht anonymisierten Auszugs aus der Ermittlungsakte durch den Verteidiger an den von der Verteidigung beauftragten Gutachter gemäß § 203 Abs. 1 Nr. 1 strafbar?
Dem Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 22. Februar 2024 (242 Ds 120/23) lag folgender Fall zugrunde:
Der angeklagte Verteidiger eines Beschuldigten hatte im Verfahren seines Mandanten, dem ein Sexualdelikt zu Lasten eines Kindes vorgeworfen wurde, Akteneinsicht erhalten. Die staatsanwaltschaftliche Akte umfasste eine vorläufige sachverständige Einschätzung einer Diplom-Psychologin, in welcher diese im Auftrag der Staatsanwaltschaft beurteilt hatte, ob die zeugenschaftlichen Angaben des Kindes im Rahmen zweier polizeilicher Anhörungen aus aussagepsychologischer Sicht belastbar waren. Der Angeklagte zweifelte die Einschätzung der Diplom-Psychologin an und entschied, nach Rücksprache mit seinem Mandanten, einen Aussagepsychologen als Sachverständigen mit der Überprüfung der vorläufigen sachverständigen Einschätzung der Diplom-Psychologin im Rahmen der Verteidigung zu beauftragen. Hierzu fertigte er eine Kopie der Einschätzung und übersandte diese vollständig, das heißt insbesondere ohne Schwärzung einzelner Angaben des Kindes oder zum vorgeblichen Tatgeschehen mit der Bitte, eine kurze Stellungnahme abzugeben, ob in der vorläufigen sachverständigen Einschätzung methodische Fehler zu erkennen seien. Die Beurteilung des Aussagepsychologen übersandte der Angeklagte anschließend der Staatsanwaltschaft.
Der Angeklagte wurde vom Vorwurf der Verletzung von Privatgeheimnissen gemäß § 203 Abs. 1 StGB aus rechtlichen Gründen freigesprochen.
Die Weitergabe der vollständigen vorläufigen sachverständigen Einschätzung durch den Angeklagten an den externen Sachverständigen stelle kein tatbestandsmäßiges Offenbaren im Sinne von § 203 Abs. 1 StGB dar, weil der Sachverständige als berufsmäßig beim Angeklagten tätiger Gehilfe anzusehen sei. Das Amtsgericht Hamburg betonte dabei, dass es bereits der gesetzgeberischen Intention entspräche, dem Berufsgeheimnisträger die Mitwirkung Dritter an der beruflichen Tätigkeit zu ermöglichen, ohne dass dieser sich einem strafrechtlichen Risiko aussetze.
Hieraus folge die gesetzgeberische Anordnung in § 43a Abs. 2 S. 6 Var. 2 BORA, nach der den vom Rechtsanwalt beschäftigten befugten Mitwissern die Personen gleichstünden, die im Rahmen einer (sonstigen) Hilfstätigkeit an der beruflichen Tätigkeit des Rechtsanwalts mitwirken. Daher sei mit Blick auf den Willen des Gesetzgebers und den gleichlaufenden Schutzzweck der Vorschrift des § 53a StPO und des § 203 StGB konsequent und geboten, den Begriff des berufsmäßigen Gehilfen im Sinne des § 203 Abs. 1 StGB mit dem Kreis derjenigen Personen gleichzusetzen, die schweigeberechtigte Hilfspersonen im Sinne des § 53a StPO sind. Im Rahmen dieser Vorschrift sei anerkannt, dass Sachverständige, die von einem Verteidiger eingeschaltet werden, an der Verteidigung mitwirkende Gehilfen im Sinne des § 53a StPO sind. Insbesondere sei dieses Ergebnis auch im Lichte der Rechtsprechung, dass von einem Verteidiger beauftragte Sachverständige, selbst wenn sie im jeweiligen Verfahren nicht selbst als Sachverständige auftreten, sogar an dessen Stelle die Ermittlungsakte entgegennehmen dürfen, da sie Gehilfen der Verteidigung sind, als adäquat anzusehen. Auch werde das hiesige Ergebnis der Intention des Gesetzgebers gerecht, dass die einem Berufsgeheimnisträger anvertrauten oder ihm in beruflicher Eigenschaft sonst bekannt gewordenen Geheimnisse grundsätzlich in seiner Sphäre verbleiben sollen und diese nur im erforderlichen Ausmaß verlassen dürfen.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht aus Berlin-Kreuzberg