Messereinsatz ohne vorherige Androhung kann durch Notwehr gerechtfertigt sein
Der Rechtfertigungsgrund der Notwehr (§ 32 StGB) spielt nicht nur in der juristischen Ausbildung, sondern auch in der Praxis eine wichtige Rolle. Mit Beschluss vom 17. April 2019 – 2 StR 363/18 – hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) recht ausführlich mit den Anforderungen an eine Notwehrhandlung auseinandergesetzt und im Ergebnis das angefochtene Urteil des Landgerichts aufgehoben. Das Landgericht hatte die Erforderlichkeit der Notwehrhandlung verneint. Hingegen lässt der BGH in seinem Beschluss deutlich werden, dass der Einsatz des Messers durch den Angeklagten in dem konkreten Fall durchaus in Notwehr erfolgt sein dürfte.
Der Angeklagte ist Gastwirt. Nach den getroffenen Feststellungen des Landgerichts hatte sich der Geschädigte bereits in der Vergangenheit respektlos verhalten, sodass ihm ein Lokalverbot ausgesprochen wurde. Der Angeklagte hatte auch den Verdacht, dass der Geschädigte im Lokal mit Drogen handeln würde. Gleichwohl kam der Geschädigte weiterhin in das Lokal und wurde dort auch von dem Angeklagten bedient. Am Tattag erschien der Geschädigte erneut und alkoholisiert im Lokal. Weil der Angeklagte wiederum davon ausging, dass der Geschädigte auf der Toilette Drogengeschäfte vornahm, forderte er den Geschädigten zum Verlassen des Lokals auf. Dieser weigerte sich jedoch und wurde aggressiv. Als der Angeklagte die Polizei rufen wollte, folgte ihm der Geschädigte sogar ca. 2 Meter hinter den Tresen. Trotz Aufforderung verließ der Geschädigte den Tresenbereich nicht. Zudem beleidigte er während einer verbalen Auseinandersetzung den Angeklagten und dessen Ehefrau. Auch schlug er dem Angeklagten das Telefon aus der Hand. Schließlich kam es zu einem Gerangel, wobei der Geschädigte immer wieder (nicht mit voller Wucht) auf den Angeklagten einschlug.
Schließlich war der Angeklagte so über das Verhalten des Geschädigten verärgert, dass er ein 26 cm langes Messer nahm. Der Geschädigte bedrängte den Angeklagten weiterhin durch Schubsen und einfaches Schlagen. Für den Angeklagten und seine Ehefrau bestand zu keinem Zeitpunkt Lebensgefahr. Das Messer hat der Geschädigte beim Angeklagten nicht bemerkt. Schließlich stach der Angeklagte ohne vorherige Androhung oder sonstige Ankündigung mehrfach auf den Oberkörper des Geschädigten ein. Auch dies bemerkte der Geschädigte zunächst nicht. Durch einen anderen Gast wurde der Geschädigte schließlich aus dem Thekenbereich fortgerissen. Erst nachdem der Geschädigte das Lokal verlassen hatte, bemerkte er seine Verletzungen. Diese waren nicht lebensbedrohlich.
Das Landgericht hat ein Handeln des Angeklagten in Notwehr verneint. Zwar habe er sich in einer Notwehrlage befunden und auch mit Verteidigungswillen gehandelt. Jedoch sei der Einsatz des Messers unter den konkreten Umständen nicht das vergleichsweise mildeste Mittel und damit nicht erforderlich gewesen. Der Angeklagte hätte den Einsatz des Messers zunächst androhen sollen. Außerdem hätte er auf weniger vitale Körperregionen einstechen können. Der kräftig gebaute Angeklagte sei dem Geschädigten auch körperlich überlegen gewesen und habe sich zudem nur einem Gegner ausgesetzt gesehen. Eine Androhung wäre jedenfalls geeignet gewesen, die weitere Einwirkung des Geschädigten sofort zu beenden. Auch habe der Geschädigte überhaupt nicht auf die geänderte Kampflage reagieren können, da er das Messer beim Angeklagten nicht bemerkt hatte.
Der BGH konnte diese Verneinung der Notwehr jedoch nicht nachvollziehen. In seinem Beschluss betont der BGH, dass auch der sofortige, das Leben gefährdende Einsatz eines Messers durch Notwehr gerechtfertigt sein kann, wenn dies bei objektiver Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung das mildeste Mittel ist. In der Regel ist der Einsatz des Messers gegenüber einem unbewaffneten Angreifer aber anzudrohen. Gleichzeitig dürften wegen der geringen Kalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos an die zu treffende Entscheidung hinsichtlich einer milderen Verteidigungshandlung keine überhöhten Anforderungen gestellt werden.
Nach Ansicht des BGH ergeben die Feststellungen des Landgerichts nicht, dass die Androhung des Messereinsatzes in der konkreten Situation gleich erfolgversprechend gewesen wäre, allein schon deshalb weil auch andere Gäste auf den Geschädigten einredeten und dieser trotzdem nicht aufhörte, den Angeklagten zu bedrängen. Es sei nicht erkennbar, dass der Geschädigte tatsächlich von weiteren Angriffen abgesehen hätte, zumal er aufgrund seiner Alkoholisierung enthemmt gewesen sei. Schließlich hätte nicht einmal die Messerstiche den Angriff des Geschädigten beendet, sondern letztlich ein Gast, der den Geschädigten hinauszerrte.
Auch wegen der Unkalkulierbarkeit des Fehlschlagrisikos habe der Angeklagte das Messer einsetzen dürfen. Die Feststellungen würden auch nicht belegen, dass der Angriff des Geschädigten durch die Androhung des Messereinsatzes endgültig beendet worden wäre. Soweit das Landgericht davon ausging, dass der Angeklagte das Messer in weniger gefährlicher Weise hätte verwenden können, fehlten auch diesbezüglich nähere Feststellungen zu der Position und den einzelnen Bewegungen des Geschädigten. Insgesamt bedürfe die Sache daher einer erneuten Verhandlung und Entscheidung.
Abschließend weist der BGH ausdrücklich darauf hin, dass im Falle einer erneuten Verurteilung des Angeklagten die verhängte Rechtsfolge unter Anwendung der sogenannten Vollstreckungslösung zu kompensieren sei. Die angeklagte Tat soll sich bereits im Dezember 2011 ereignet haben. Nun – mehr als sieben Jahre danach – gibt es immer noch keine rechtskräftige Entscheidung. Der Grund dafür ist der „zwischenzeitliche Verlust der Verfahrensakten“. Eine solche erhebliche Verfahrensverzögerung stellt regelmäßig einen Verstoß gegen Artikel 6 Abs. 1 EMRK dar.