Schwere Körperverletzung: Siechtum bei ungewisser Heilbarkeit
Sei es in strafrechtlichen oder zivilrechtlichen Klausuren oder in der Praxis: Die Körperverletzungsdelikte beschäftigen uns stets immer wieder. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es nicht nur die einfache Körperverletzung nach § 223 Strafgesetzbuch (StGB) gibt. Zu den Körperverletzungsdelikten gehört auch die schwere Körperverletzung nach § 226 StGB.
Hat die Körperverletzung zur Folge, dass die verletzte Person das Sehvermögen auf einem Auge oder beiden Augen, das Gehör, das Sprechvermögen oder die Fortpflanzungsfähigkeit verliert (Nr. 1), ein wichtiges Glied des Körpers verliert oder dauernd nicht mehr gebrauchen kann (Nr. 2) oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in Siechtum, Lähmung oder geistige Krankheit oder Behinderung verfällt (Nr. 3), so ist die Strafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren gemäß § 226 StGB.
Der Bundesgerichtshof befasste sich am 11. Mai 2023 (4 StR 421/22) mit dem schweren Körperverletzung nach § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB.
Folgender Sachverhalt lag dieser Entscheidung zugrunde: Ein Ehepaar fuhr morgens gemeinsam zur Arbeit. Während die Ehefrau schlief, drückte der Fahrzeugfahrer plötzlich das Gaspedal herunter und lenkte den Wagen absichtlich mit fast 100 km/h gegen einen dickeren Baum. Zwei Wochen vor der Autofahrt hatte ihm seine Ehefrau allerdings mitgeteilt, dass sie sich von ihm trennen werde und bereits einen anderen Partner habe. Infolge des Verkehrsunfalls erlitt die Frau zahlreiche schwere Verletzungen, die ihre dauernde Erwerbsunfähigkeit und eine Schwerbehinderung von 80% zur Konsequenz hatten. Schmerzbedingt konnte die Frau – trotz hoher Schmerzmedikationen – nicht länger als zehn Minuten am Stück stehen und nicht länger als eine Stunde sitzen.
Das Landgericht verurteilte den Mann wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren.
Sowohl die Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft legten Revision zum Bundesgerichtshof ein. Insbesondere rügte die Staatsanwaltschaft, dass der Angeklagte nicht auch (tateinheitlich) wegen einer schweren Körperverletzung ach § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB verurteilt worden war.
Die Revision hatte beim Bundesgerichtshof Erfolg. Die Karlsruher Richter entschieden, dass die Frau unter Berücksichtigung ihrer Verletzungen und Folgeschäden schwer verletzt im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB ist. Insbesondere lehnte der Bundesgerichtshof es ab, bei fehlender Prognostizierbarkeit der Heilungschance ein „Siechtum“ im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB zu verneinen. Nach Ansicht der Richter sei zur Erfüllung des Tatbestandes nur notwendig, dass die schwere Folge längere Zeit andauere. Bereits der 4. Strafsenat hatte in der Vergangenheit entschieden, dass „Siechtum“ im Sinne des § 226 Abs. 1 Nr. 3 StGB ein chronischer Krankheitszustand ist, der den Gesamtorganismus in Mitleidenschaft zieht, ein Schwinden der körperlichen und geistigen Kräfte sowie allgemeine Hirnfälligkeit zur Folge hat. Daher erfüllen der Grad der Behinderung, die Schmerzen trotz der Einnahme von Schmerzmitteln, die Depressionen und der Bezug von Pflegegeld den Tatbestand. Solange die schwere Folge von längerer Dauer ist, sei es für den Tatbestand nicht hinderlich, dass zum Zeitpunkt der Verurteilung die Heilung nicht ausgeschlossen war. Weiterhin führte der Bundesgerichtshof aus, dass angesichts des Sachverhalts das Landgericht auch zu prüfen hat, ob der Mann nach § 226 Abs. 2 StGB die schwere Folge absichtlich oder wissentlich herbeigeführt habe.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht aus Berlin-Kreuzberg