Spontaner Tatentschluss und Heimtücke – ein Widerspruch in sich?
Das Mordmerkmal der Heimtücke ist eines der weitesten Tatbestandsmerkmale des § 211 StGB. Denn nach der Definition der Rechtsprechung handelt heimtückisch, wer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in feindlicher Willensrichtung bewusst ausnutzt. Arglos ist dabei, wer sich im Zeitpunkt der Tat, also bei Beginn der ersten mit Tötungsvorsatz geführten Handlung, keines Angriffs von Seiten des Täters versieht. Hinzukommen muss, dass das Opfer gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos ist, also keine oder nur eine eingeschränkte Möglichkeit zur Verteidigung hat.
Um diesen Tatbestand einzuschränken, hat die Rechtsprechung zum einen das Kriterium des Handelns in feindlicher Willensrichtung entwickelt, der Mitleidstötungen aus dem Anwendungsbereich ausschließen soll. Zum anderen fordert sie ein Ausnutzungsbewusstsein des Handelnden, um nicht jeden für das Opfer überraschend wirkenden Angriff auf sein Leben zu erfassen. Für ein solches Ausnutzungsbewusstsein ist erforderlich, dass der Angreifer die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers nicht nur in objektiver Weise wahrgenommen hat. Vielmehr muss er die Bedeutung der hilflosen Lage für sein Opfer genau erfasst haben und sich darüber bewusst sein, dass er einen durch seine Ahnungslosigkeit schutzlosen Menschen mit seinem Angriff überrascht.
Die Kriterien, die an das Ausnutzungsbewusstsein gestellt werden, hat der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner Rechtsprechung immer weiter entwickelt. Nach seinen Ausführungen setzt das Ausnutzungsbewusstsein nicht unbedingt einen planvoll Handelnden oder eine längere Überlegung voraus. Heimtücke kann vielmehr auch einer raschen Eingebung folgen, bei der der Angreifer die für ihn günstige Situation erfasst hat. Das bedeutet, dass sich Spontanität und das Merkmal der Heimtücke nicht grundsätzlich ausschließen. Allerdings ist die Spontanität des Tatentschlusses nach Ansicht des BGH regelmäßig ein Indiz für das Fehlen des Ausnutzungsbewusstseins.
Auch in seinem Urteil vom 31.7.2014 – 4 StR 147/14 hat der BGH ein Ausnutzungsbewusstsein des Angeklagten verneint. Der Angeklagte war mit dem von ihm gesteuerten Pkw mit mindestens 90 km/h gegen einen Baum gefahren, um sich selbst zu töten. Seine Ehefrau, deren Tod er billigend in Kauf nahm, saß auf dem Beifahrersitz. Während seine Ehefrau an den Verletzungen des Unfalls starb, überlebte der Angeklagte die Kollision schwer verletzt.
Das Landgericht Leipzig verurteilte den Angeklagten wegen Totschlags und verneinte eine Strafbarkeit wegen Mordes, da es das Merkmal der Heimtücke als nicht gegeben ansah. Zwar bejahte das Landgericht, dass objektiv sowohl Arg- als auch Wehrlosigkeit der Ehefrau gegeben waren, weil sie sich keines Angriffs versah und gerade deshalb in ihren Verteidigungsmöglichkeiten im Auto eingeschränkt war. Nach Ansicht des Landgerichts hat der Angeklagte dies jedoch nicht bewusst zur Tatbegehung ausgenutzt, da er den Tatentschluss in einer psychischen Ausnahmesituation spontan gefasst hat und aus Verzweiflung über seine Lebenssituation sowie aus Angst vor einer endgültigen Trennung von seiner Ehefrau und den Kindern gehandelt habe.
Dieser Argumentation schloss sich auch der BGH an. Dabei betonte er noch einmal, dass bei solchen Augenblickstaten, die insbesondere durch affektive Durchbrüche oder sonst heftigen Gemütsbewegungen entstehen, der Täter zwar oft nicht daran gehindert ist, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tatbegehung zu erkennen. Gleichwohl spreche die Spontanität bei einer besonderen Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters gegen ein Ausnutzungsbewusstsein, so wie auch in diesem Fall. Der Angeklagte sei zwar dazu fähig gewesen, die Situation seiner Frau zu erkennen und nahm ihren Tod auch billigend in Kauf. Allerdings konnte ihm keine darüber hinausgehende Bedeutungskenntnis hinsichtlich des Ausnutzens der Wehrlosigkeit seiner Frau zugesprochen werden.