Strafbefehlsverfahren: Keine Verwerfung des Einspruchs bei Abwesenheit des Angeklagten und des Verteidigers in der Hauptverhandlung, wenn die Beiordnung eines Pflichtverteidigers rechtsfehlerhaft unterblieben ist
Durch den Erlass eines Strafbefehls kann eine Strafsanktion gegen den Angeklagten festgesetzt werden, ohne dass zuvor eine Verhandlung vor dem zuständigen Amtsgericht stattgefunden hat. Da der Angeklagte auf diese Weise jedoch allein „aufgrund der Aktenlage“ verurteilt werden kann, besteht für ihn immer noch die Möglichkeit des Einspruchs gegen den Strafbefehl. Ist der Einspruch rechtzeitig eingelegt worden, findet dann in der Regel eine Hauptverhandlung statt. Zu dieser muss der Angeklagte, der den Einspruch eingelegt hat, dann aber auch erscheinen. Ist der Angeklagte dennoch nicht zur Hauptverhandlung erschienen und auch nicht genügend entschuldigt, hat das Gericht die Möglichkeit, ohne Verhandlung zur Sache den Einspruch zu verwerfen (§§ 412, 329 StPO).
Mit Beschluss vom 19. Juli 2017 – (1) 53 Ss 69/17 (40/17) – hat das Brandenburgische Oberlandesgericht entschieden, dass das Nichterscheinen des Angeklagten zur Hauptverhandlung im Strafbefehlsverfahren unter anderem dann entschuldigt sein kann, wenn ihm kein Pflichtverteidiger beigeordnet worden ist, obwohl ein Fall der notwendigen Verteidigung vorgelegen hat. In einem solchen Fall des entschuldigten Ausbleibens des Angeklagten, darf das Gericht somit auch kein Verwerfungsurteil erlassen.
Genau dies war in dem vom Brandenburgischen Oberlandesgericht zu entscheidenden Fall aber geschehen. Das Amtsgericht Potsdam hatte unseren Mandanten wegen gemeinschaftlichen versuchten Diebstahls in besonders schwerem Fall durch Strafbefehl zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt. Zuvor war unser Mandant schon wegen anderer Delikte von anderen Gerichten verurteilt worden und außerdem waren zu dieser Zeit auch noch weitere Verfahren gegen ihn anhängig. Unser Mandant hat Einspruch gegen den Strafbefehl aus Potsdam eingelegt, woraufhin ein Termin zur Hauptverhandlung anberaumt wurde. Unterdessen ist auch wiederholt beantragt worden, dem Angeklagten wegen der „Schwere der Tat“ im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger beizuordnen. Dies hat das Amtsgericht Potsdam jedoch abgelehnt. Zu der Hauptverhandlung ist dann weder der Angeklagte noch ein Verteidiger erschienen, sodass das Amtsgericht den Einspruch verworfen hat.
Gegen dieses Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Potsdam hat Rechtsanwalt Dietrich Revision eingelegt und die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Die in zulässiger Form erhobene Verfahrensrüge hatte Erfolg. Das Brandenburgische Oberlandesgericht (OLG) hat der Revision stattgegeben und das Verwerfungsurteil des Amtsgerichts Potsdam aufgehoben.
Das OLG stellt in seinem Beschluss klar, dass tatsächlich ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 Abs. 2 StPO wegen der „Schwere der Tat“ vorgelegen hat. Wann eine Tat als „schwer“ anzusehen ist, richtet sich nach den zu erwartenden Rechtsfolgen. Die gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung sieht eine Schwere der Tat regelmäßig dann gegeben, wenn die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten ist, wobei eine solche Strafe auch erst durch eine (nachträgliche) Gesamtstrafenbildung erreicht werden kann. Das Amtsgericht Potsdam hatte den Angeklagten zwar „nur“ zu einer Geldstrafe von 100 Tagessätzen verurteilt, jedoch wäre diese Entscheidung mit einer früheren Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten gesamtstrafenfähig gewesen, sodass insgesamt durchaus eine Freiheitsstrafe von einem Jahr gedroht hat und insofern die „Schwere der Tat“ anzunehmen war. Die Mitwirkung eines Verteidigers war daher notwendig gewesen.
Dennoch greife der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO, nämlich die Durchführung einer Hauptverhandlung in Abwesenheit eines notwendigen Verfahrensbeteiligten, hier nicht durch. Es liege hier eben keine Abwesenheit des Verteidigers während eines wesentlichen Teils der Hauptverhandlung vor. Denn im Falle des Ausbleibens des Angeklagten und dem Erlass eines Verwerfungsurteils wird weder zur Sache verhandelt noch werden Feststellungen zum Schuld- oder Strafausspruch getroffen. Hingegen wird nur geprüft, ob die Voraussetzungen einer möglichen Verwerfung des Einspruches vorliegen.
Allerdings hätte das Amtsgericht den Einspruch hier gar nicht verwerfen dürfen, weil das Ausbleiben des Angeklagten im Sinne der §§ 412, 329 StPO genügend entschuldigt war. Dies ist nach der obergerichtlichen Rechtsprechung der Fall, wenn dem Angeklagten bei Abwägung aller Umstände des Einzelfalles aus seinem Ausbleiben billigerweise kein Vorwurf gemacht werden kann, insbesondere auch wenn Umstände vorliegen, die das Erscheinen bei Abwägung der widerstreitenden Interessen unzumutbar erscheinen lassen. Trotz wiederholten Antrages war unserem Mandanten kein Verteidiger beigeordnet worden, obwohl bei einer Gesamtschau aller Umstände die Mitwirkung eines Verteidigers zur Sicherstellung eines fairen Verfahrens und zur Sicherstellung der Verteidigungsinteressen des Angeklagten geboten war. Das Ausbleiben des Angeklagten war daher genügend entschuldigt.
In diesem Fall der notwendigen Verteidigung hätte eine Hauptverhandlung ohne Verteidiger gemäß § 145 Abs. 1 StPO auch nicht stattfinden dürfen, sondern die Verhandlung hätte vielmehr von Amts wegen vertagt werden müssen. Insofern hätte der Einspruch auch aus diesem Grunde nicht gemäß §§ 412, 329 StPO verworfen werden dürfen. Denn der Sinn und Zweck dieser Verwerfungsmöglichkeit besteht darin zu verhindern, dass der Angeklagte durch sein Ausbleiben die Entscheidung über sein Rechtsmittel verhindert. Hier konnte die Hauptverhandlung aber schon wegen des Ausbleiben des notwendigen Verteidigers nicht durchgeführt werden, insofern war eine Verwerfung des Einspruchs aufgrund der §§ 412, 329 StPO nicht mehr vom Normzweck gedeckt.
Die bislang unveröffentlichte Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts können Sie hier nachlesen: Beschluss vom 19. Juli 2017