Täter sind Opfer sind Täter – zu BGH, Beschluss v. 11. August 2010 (1 StR 351/10)

Der Leitsatz

Ein körperlich unterlegener Täter, der zuvor massiver körperlicher Gewalt seitens des Opfers ausgesetzt war und diesem kurz darauf im Treppenhaus wieder begegnet, darf ein mitgeführtes Messer als Verteidigungsmittel einsetzen.
Dies gilt auch dann, wenn das Opfer keinen neuerlichen Angriff beabsichtigt, der Täter aber irrtümlich vom Vorliegen eines Angriffs ausgeht, weil sich das Opfer ihm nähert. Es handelt sich insofern um einen Erlaubnistatbestandsirrtum.
Schwingt der Täter das Messer vor der Verwendung, so kann darin die Androhung des Einsatzes der Waffe gesehen werden, unabhängig davon, ob das Opfer das Messer auch tatsächlich wahrnimmt.

Der Sachverhalt


O trifft den körperlich überlegenen A im Erdgeschoss eines Mehrfamilienhauses, nimmt ihn in den Schwitzkasten, zieht ihn in den Keller und versetzt ihm einen schmerzhaften Faustschlag ins Gesicht und einen Tritt in den Bereich des rechten Thorax.

Weinerlich und verstört begibt sich A daraufhin in seine Wohnung, um die Polizei zu rufen. Plötzlich erinnert er sich, dass seine Freundin im Eingangsbereich des Hauses auf ihn wartet und sorgt sich, weil er es nicht für ausgeschlossen hielt, dass sich O auch gegen sie wenden könnte.

Weil er aber eine neue Auseinandersetzung mit O befürchtet und ihm nicht ohne jeden Schutz gegenüber treten will, ergreift er ein ca. 30 cm langes Küchenmesser mit einer fast 19 cm langen Klinge. Mit diesem begibt er sich aus der Wohnung in den Treppenflur, wobei er sich plötzlich O gegenüber sieht, welcher zu diesem Zeitpunkt noch etwa 4 bis 5 Stufen unterhalb von ihm im Begriff war, nach oben in die über der Wohnung des Angeklagten liegende Wohnung seiner Freundin zu gehen.

Für O war die Auseinandersetzung beendet. A geht jedoch von weiteren Schlägen seitens des O aus. Aus diesem Grund beginnt A schwingende Bewegungen mit dem Messer, um O von einer weiteren Annäherung abzuhalten. Trotz der schwingenden Bewegungen sieht O jedoch das Messer nicht und steigt weiter die Treppe hinauf.

Dabei fügt A dem O eine 0,5 bis 1 cm tiefe und 7 cm lange Schnittwunde zu, die folgenlos verheilt.

Strafbarkeit wg. gefährlicher Körperverletzung gem. § 224 Abs. 1 Nr. 2?

Die Probleme: Erlaubnistatbestandsirrtum – Putativnotwehr – Androhung des Verteidigungsmittels

Mit diesem Fall musste sich der BGH in einer jüngst erschienenen Entscheidung (bereits zum zweiten Mal) auseinandersetzen. Einerseits ging es darum, ob der körperlich unterlegene Täter, der sich irrig einem Angriff ausgesetzt sieht, ein Messer zur Verteidigung einsetzen darf. Anderseits war zu klären, ob die Verwendung eines Verteidigungsmittels auch dann angedroht wird, wenn der vermeintliche Angreifer das Verteidigungsmittel nicht wahrnimmt.

Irrtümer kann es auf allen Ebenen der Straftat geben, dh. auf der Ebene des Tatbestands, der Rechtfertigung und der Schuld.

Hier kommt nur ein Irrtum auf der Rechtfertigungsebene in Betracht, ein Erlaubnistatbestandsirrtum liegt nahe.

Der Erlaubnistatbestandsirrtum ist die irrige Annahme der tatsächlichen Voraussetzungen eines von der Rechtsordnung anerkannten Rechtfertigungsgrundes.

Anders formuliert: Der Täter nimmt irrig das Vorliegen eines rechtfertigenden Sachverhalts an.

Der Erlaubnistatbestandsirrtum schließt eine Bestrafung wegen einer vorsätzlichen Tat aus, § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB.
(In einem Gutachten könnte man noch besprechen, dass die Behandlung des Erlaubnistatbestandsirrtums umstritten ist, es die strenge Schuldtheorie (unmittelbare Anwendung des § 17), die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen (unmittelbare Anwendung des § 16), die eingeschränkte Schuldtheorie (analoge Anwendung des § 16) und die rechtfolgenverweisende Schuldtheorie (TB-Vorsatz bleibt erhalten, Vorsatzschuld ist ausgeschlossen) gibt und sich für die eingeschränkte Schuldtheorie mit ein paar Argumenten entscheiden. Der BGH muss das natürlich nicht (so ausführlich) machen.)

Zu prüfen ist somit, ob aus Sicht des Täters eine Notwehrlage vorlag, gegen die eine Verteidigung zulässig gewesen wäre und ob die Verteidigung das zulässige Maß eingehalten hat.

A nahm irrig einen Angriff des O an (Putativnotwehr).

Ob der Angriff eine Verteidigung erforderlich macht, hängt von der Art und dem Maß des Angriffs ab. Grundsätzlich darf der Angegriffene das für ihn erreichbare Abwehrmittel wählen, das eine sofortige und endgültige Beseitigung der Gefahr erwarten lässt. Das Recht braucht dem Unrecht nicht zu weichen. Der „Verteidiger“ darf sogar eine Waffe benutzen, ist aber dann gehalten, den Gebrauch der Waffe anzudrohen.

A hatte kein anderes Verteidigugnsmittel, die Verwendung des Messers war die einzige Möglichkeit, den angenommenen Angriff abzuwehren. Auf unsichere Abwehrmittel muss er sich nicht einlassen. Er muss es nicht hinnehmen, weitere Schläge des O zu erhalten. Dass O den A zuvor erheblich geschlagen hat, „hilft“ dem A an dieser Stelle sehr.

A hat mit den Armen geschwungen, darin ist ein Androhen des Messergebrauchs zu sehen. Nach Ansicht des BGH ist es unerheblich, dass O die Androhung nicht wahrgenommen hat.

A befand sich somit in einem den Vorsatz ausschließenden Erlaubnistatbestandsirrtum.

Folglich hat der BGH das Urteil des LG aufgehoben und – an ein anderes Landgericht – „zurück“verwiesen.

Eine ganz andere Frage ist übrigens, ob – da der Vorsatz ausgeschlossen ist – eine Bestrafung aus dem Fahrlässigkeitstatbestand möglich ist. Hierbei wird es auf die Vertmeidbarkeit der irrigen Annahme ankommen. Da sich A in einem aufgewühlten Zustand befand, den Schlag und Tritt in frischer Erinnerung hatte und O trotz Androhung der Verteidigungsmittelanwendung weiter voranging, spricht viel dafür, dass der Irrtum des A nicht vermeidbar war, A also auch nicht fahrlässig gehandelt hat.

Zur Wiederholung die Leitsätze der Entscheidung:

Ein körperlich unterlegener Täter, der zuvor massiver körperlicher Gewalt seitens
des Opfers ausgesetzt war und diesem kurz darauf im Treppenhaus wieder begegnet,
darf ein mitgeführtes Messer als Verteidigungsmittel einsetzen. Dies gilt auch dann,
wenn das Opfer keinen neuerlichen Angriff beabsichtigt, der Täter aber irrtümlich
vom Vorliegen eines Angriffs ausgeht, weil sich das Opfer ihm nähert. Es handelt sich
insofern um einen Erlaubnistatbestandsirrtum. Schwingt der Täter das Messer vor der
Verwendung, so kann darin die Androhung des Einsatzes der Waffe gesehen werden,
unabhängig davon, ob das Opfer das Messer auch tatsächlich wahrnimmt.

Konstantin Stern

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