Verteidigung oder Angriff? – Die Notwehr
„Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.“ (§ 32 Abs. 1 StGB)
Die Notwehr ist ein Rechtfertigungsgrund und bewirkt, dass sich der Täter nicht strafbar macht. Dafür muss er sich jedoch in einer Notwehrlage befunden haben und seine Notwehrhandlung muss erforderlich sowie geboten gewesen sein.
In seinem Beschluss vom 6. Oktober 2021 hat sich der Bundesgerichtshof (6 StR 348/21) mit dem Merkmal der Gegenwärtigkeit beschäftigt. Im hiesigen, der Entscheidung des Bundesgerichtshofes zugrundeliegenden Sachverhalt suchten der später getötete G und sein Freund M bewaffnet mit Messer und Schraubenzieher den Angeklagten in seiner Wohnung auf, um ihn dort zu verletzen.
Dort angekommen verschafften sie sich Zugang zum Wohnhaus und klingelten dann an der Wohnungstür des Angeklagten. Als der Angeklagte aufmachte, forderten sie ihn auf, mit ihnen vor das Haus zu kommen, um etwas zu klären. Der Angeklagte schloss jedoch direkt die Tür, woraufhin G und M schrien und heftig gegen die Tür klopften. Der Angeklagte holte dann ein Messer aus der Küche, machte die Tür wieder auf und stach mit dem Messer erst G in den Oberbauch und im Anschluss den M. G verstarb wenig später.
Das Landgericht Halle lehnte eine Rechtfertigung durch Notwehr mit der Begründung ab, dass nach dem Schließen der Wohnungstür keine konkrete Gefahr bestanden habe. Die Revision des Angeklagten hatte Erfolg und der Bundesgerichtshof stellte fest, dass die Verurteilung rechtlicher Überprüfung nicht standhält.
Zum einen bestehen bereits Bedenken bezüglich dessen, dass aufgrund des Schließens der Tür keine konkrete Gefährdung mehr bestand. Es gibt demnach keine Anhaltspunkte dafür, dass die Tür den Gewaltakten der Angreifer nicht standhalten könnte.
Zum anderen ergeben die bisherigen Feststellungen, dass jedenfalls im Zeitpunkt der Messerstiche ein rechtswidriger Angriff unmittelbar bevorstand. Demnach entscheidet über die Gegenwärtigkeit eines Angriffs nicht erst die Vornahme der Verletzungshandlung, sondern bereits der Zeitpunkt der durch den bevorstehenden Angriff geschaffenen bedrohlichen Lage. G und M wollten den Angeklagten im vorliegenden Fall an Leib und Leben verletzen und standen nur einen Schritt bewaffnet entfernt vom Angeklagten. Aufgrund dessen bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Strafverteidiger aus Berlin-Kreuzberg