Wann liegt bei einem ärztlichem Heileingriff eine Körperverletzung vor?
Die Frage, ob ein ärztlicher Heileingriff den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt, hat sich als ein Dauerbrenner medizinstrafrechtlicher Erörterungen erwiesen und muss auch immer wieder vom Bundesgerichtshof entschieden werden.
In seiner Entscheidung vom 26. Mai 2020 (2 StR 434/19) musste sich der Bundesgerichtshof nun mit der Frage auseinandersetzen, ob eine Körperverletzung auch dann vorliegt, wenn der Eingriff in die körperliche Unversehrtheit nicht durch einen Arzt, sondern durch eine Pflegekraft sogleich aber in heilender Absicht erfolgt. Auch musste er sich damit beschäftigen, ob in einem solchen Fall eine rechtfertigende Einwilligung in Betracht kommt.
Der Angeklagte war vorliegend als examinierte Pflegekraft in einem Altenpflegeheim tätig. Im Rahmen dieser Tätigkeit verabreichte er dem im Endstadium an Lungenkrebs erkrankten 63-jährigen Betroffenen Morphin in einer Dosis von 10 mg. Der Betroffene litt bereits bei einfachen pflegerischen Maßnahmen unter starken Schmerzen. Er aß nicht mehr, konnte kaum noch schlucken und nur noch durch leichte Kopfbewegungen oder mittels kurzer, einfacher Worte kommunizieren.
Durch das Verabreichen des Morphins wollte der Angeklagte diese Schmerzen des Betroffenen lindern. Ärztlich verordnet war lediglich eine Dosis von 5 mg. Er fragte nicht, ob der Betroffene eine Spritze wolle. Erst recht fragte der Beschuldigte nicht, ob der Betroffene eine Spritze mit der doppelten Dosierung wolle. Auch den gesetzlichen Betreuer des Betroffenen befragte der Beschuldigte nicht. Er injizierte sodann dem nicht an Morphin gewöhnten Betroffenen zehn Milligramm Morphin, wodurch dessen Schmerzen gelindert, seine Atmung jedoch beeinträchtigt wurde.
Der Angeklagte wurde von dem Landgericht Darmstadt daher wegen Körperverletzung i.S.v. § 223 Abs. 1 StGB verurteilt. Er habe durch die Injektion des Morphins einen pathologischen Zustand herbeigeführt oder gesteigert. Eine Rechtfertigung sei nicht gegeben, weil die Verabreichung der Spritze mit 10 mg Morphin nicht der ärztlichen Anordnung entsprach und weder eine wirksame, ausdrückliche oder stillschweigend erklärte Einwilligung noch eine mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen vorlag. Eine Einwilligung sei ohnehin nur in eine fachgerechte ärztliche Heilbehandlung möglich und nicht in eine Maßnahme einer Pflegekraft, die bewusst eine ärztliche Anordnung umgeht bzw. eigenmächtig erweitert.
In seiner Entscheidung führt der Bundesgerichtshof aus, dass ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit als Körperverletzung zu bewerten ist, auch wenn er in heilender Absicht erfolgt. Selbst ein im Einklang mit den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommener Eingriff erfüllt den Straftatbestand. Er kann nur durch wirksam erklärte oder mutmaßliche Einwilligung des Patienten gerechtfertigt werden.
Vorliegend hätte das Landgericht prüfen müssen, ob die Handlung des Angeklagten nicht durch eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt ist. So habe das Landgericht fehlerhaft die Prüfung einer mutmaßlichen Einwilligung unterlassen, weil es aus der bewussten Umgehung bzw. eigenmächtigen Erweiterung einer ärztlichen Verordnung durch den Angekl. als Nichtarzt eine generelle Unmöglichkeit der Rechtfertigung der Körperverletzung durch (mutmaßliche) Einwilligung abgeleitet hat.
Die Grundsätze der Rechtfertigung von Maßnahmen zur Ermöglichung eines schmerzfreien Todes seien nicht ausnahmslos auf Handlungen durch einen Arzt oder aufgrund ärztlicher Anordnung beschränkt. Auch ein Nichtarzt könne im Ausnahmefall medizinische Maßnahmen zur Leidensminderung durchführen, wenn sie der Sache nach den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechen und sich im Rahmen einer mutmaßlichen Einwilligung des Patienten bewegen. Beim Sterben eines unheilbar Kranken, dem unmittelbar vor dem Tod nur noch durch Schmerzbekämpfung geholfen werden kann, bestehe eine solche Ausnahmesituation.
Das Landgericht hätte deshalb eine Gesamtwürdigung aller Umstände vornehmen müssen, die für den mutmaßlichen Patientenwillen von Bedeutung sein können. Dabei wäre zu berücksichtigen gewesen, dass im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten der Inhalt seines Willens aus seinen persönlichen Umständen, individuellen Interessen, Wünschen, Bedürfnissen und Wertvorstellungen zu ermitteln ist.
Die Revision des Angeklagten hatte folglich Erfolg. Der Bundesgerichtshof hob das Urteil des Landgerichts auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung an eine andere Strafkammer zurück.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg