Wie weit reicht das Notwehrrecht?
Die Notwehr ist ein wichtiger Bestandteil des Strafgesetzbuches (StGB). Sie gesteht den Menschen ein Recht zur Verteidigung zu, sodass die in der Regel strafbaren Handlungen straflos bleiben.
Die Notwehr, die im Strafrecht als Rechtfertigungsgrund gesehen wird, ist im § 32 StGB geregelt. Damit die Handlungen durch Notwehr gerechtfertigt sind, muss zum einen eine Notwehrlage vorliegen, die sich durch einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff auszeichnet. Die Notwehrhandlung muss außerdem auf den Angreifer gerichtet sein und erforderlich und geboten sein. Erforderlich ist die Notwehrhandlung, wenn sie als Abwehrhandlung geeignet ist und wenn sie unter mehreren gleichwirksamen Möglichkeiten das mildeste Mittel ist. Eine weitere Voraussetzung des Notwehrrechts ist die Gebotenheit, bei der im Einzelfall gebotene sozial-ethische Einschränkungen vorgenommen werden müssen. Beispielsweise ist die Notwehr bei einem krassen Missverhältnis zwischen den Folgen der Verteidigung und der drohenden Verletzung des Angriffs nicht mehr geboten.
Doch wie weit reicht das Recht auf Notwehr? Wie schwer es im Einzelfall sein kann, das Vorliegen eines Notwehrrechts zu bewerten, wird im Beschluss des Bundesgerichtshofes (5 StR 175/22) vom 4. August 2022 deutlich. Im hiesigen Sachverhalt kam es zwischen dem Angeklagten und dem Nebenkläger zu einer Auseinandersetzung, nachdem der Nebenkläger den Angeklagten aufgesucht hatte, um ihn in einem Faustkampf zu verprügeln. Während der Nebenkläger sein Vorhaben in die Tat umsetzte, holte der Angeklagte ein Messer heraus und stach damit 6 Mal zu, sodass der Nebenkläger intensivmedizinisch versorgt werden musste. Daraufhin wurde der Angeklagte wegen versuchten Totschlags verurteilt. Eine Notwehr verneinte das Landgericht Hamburg, wofür unter anderem die Vielzahl und die Intensität der zugefügten Messerstiche als Begründung aufgezählt wurden.
Der Bundesgerichtshof stellt jedoch fest, dass die Ablehnung der Notwehr rechtlicher Überprüfung nicht standhält. Demnach findet die Annahme, dass es dem Angeklagten möglich gewesen wäre, das Messer auf weniger gefährliche Art und Weise einzusetzen, im Urteil keine Stütze, da das Kampfgeschehen als hochdynamisch beschrieben wurde. Eine Notwehr ist mit den getroffenen Feststellungen und der vorliegenden Begründung somit nicht auszuschließen.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Strafverteidiger aus Berlin-Kreuzberg