Zur relativen Fahruntüchtigkeit
Die Straßenverkehrsdelikte (§§ 315 ff. StGB) beschäftigen sowohl Praktiker als auch Studierende immer wieder. Auch der Bundesgerichtshof beschäftigte sich jüngst in seinem Beschluss (4 StR 526/24) vom 26. Februar 2025 mit den Straßenverkehrsdelikten, konkret mit dem Tatbestandsmerkmal der relativen Fahruntüchtigkeit. Folgender Sachverhalt lag dem Beschluss zugrunde:
Nach den Feststellungen des Landgerichts Münster befuhr der Angeklagte, der am Abend Alkohol getrunken und höchstens zwei Tage zuvor Marihuana konsumiert hatte, mit seinem Pkw nachts eine Landstraße. Er wies eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 0,72 Promille und höchstens 1,35 Promille auf, außerdem enthielt sein Blut mindestens 1,6 ng/ml THC. In einer Rechtskurve, in der die zulässige Höchstgeschwindigkeit auf 50 km/h begrenzt war, geriet der Angeklagte infolge alkoholbedingt zu hoher Geschwindigkeit von etwas mehr als 80 km/h mit seinem Fahrzeug driftend auf die Gegenfahrbahn und dieses kollidierte mit einem Fußgänger. Der Geschädigte wurde durch den Unfall getötet. Der Angeklagte, der den Zusammenstoß mit einem Menschen bemerkt hatte, setzte anschließend seine Fahrt fort, wobei er billigend in Kauf nahm, dass der Geschädigte noch lebte und bei sofortigen Rettungsmaßnahmen überleben, ohne diese aber versterben könnte. Er entfernte sich, um seine Beteiligung an dem Unfall – in intoxikiertem Zustand – zu verdecken.
Das Landgericht Münster verurteilte den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) in Tateinheit mit fahrlässiger „Straßengefährdung“ (§ 315c StGB) sowie wegen versuchten Mordes (§ 211 StGB) in Tateinheit mit unerlaubtem Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) und mit „vorsätzlicher“ Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten. Der Angeklagte legte gegen das Urteil Revision ein und erzielte einen Teilerfolg. Nach Beurteilung der Karlsruher Richter sei die vom Landgericht Münster in beiden Fällen – als Tatbestandsmerkmal des § 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a) StGB im Fall 1 und des § 316 Abs. 1 StGB im Fall 2 der Urteilsgründe – festgestellte alkoholbedingte relative Fahruntüchtigkeit des angeklagten nicht belegt.
Die relative Fahruntüchtigkeit sei gegeben, wenn die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zur Tatzeit zwar – wie im vorliegenden Fall – unterhalb des Grenzwertes der absoluten Fahruntüchtigkeit liegt, aber aufgrund zusätzlicher Tatsachen der Nachweis alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit geführt werden könne. Erforderlich seien mithin weitere aussagekräftige Beweisanzeichen, die im konkreten Einzelfall belegen, dass die Gesamtleistungsfähigkeit des Kraftfahrzeugführers infolge seiner Alkoholisierung so weit herabgesetzt war, dass er nicht mehr fähig gewesen sei, sein Fahrzeug im Straßenverkehr eine längere Strecke, auch bei Eintritt schwieriger Verkehrslagen, zu steuern. Dies habe das Landgericht anhand einer Gesamtwürdigung aller relevanten Umstände zu beurteilen.
Nach dem BGH genüge die Beweiswürdigung des Landgericht Münster diesen Anforderungen nicht. Es habe lediglich knapp ausgeführt, die unfallursächliche Geschwindigkeitsüberschreitung sei als alkoholbedingter Fahrfehler zu werten, weil „andere Gründe für die angesichts der Dunkelheit und der fehlenden Streckenkenntnis des Angeklagten deutlich überhöhte Geschwindigkeit nicht ersichtlich“ seien und deshalb eine alkoholbedingte Überschätzung der eignen Fähigkeiten durch den Angeklagten naheliege. Mit dieser Erwägung sei eine Fahruntüchtigkeit im Sinne der §§ 315c Abs. 1 Nr. 1 lit. a) StGB schon deshalb nicht belegt, weil das Landgericht Münster mit ihr in der Sache nach nur seine Überzeugung davon begründe, dass das Fahrverhalten des Angeklagten durch die Auswirkungen des genossenen Alkohols beeinflusst war, jedoch nicht jegliche Mitursächlichkeit einer Alkoholintoxikation für einen Fahrfehler ohne weiteres mit einer Fahruntüchtigkeit im Sinne der genannten Straftatbestände gleichzusetzen sei. Die Annahme des Landgerichts Münster, dass der Angeklagte die eignen Fähigkeiten alkoholbedingt überschätzt haben müsste, wäre namentlich auch mit einer bloßen Enthemmung des Angeklagten infolge des Alkoholkonsums vereinbar, die sein fahrerisches Leistungsvermögen noch nicht in einem für die Annahme der Fahruntüchtigkeit ausreichendem Maß beeinträchtigt haben muss.
Dass der Angeklagte einen solchen Zustand erreicht habe, liege auch nicht ohne weiteres auf der Hand. Vielmehr deuten mehrere festgestellte Umstände auf eine erhaltene Fahruntüchtigkeit hin, die das Landgericht Münster rechtsfehlerhaft unerörtert gelassen habe. So sei die – nach dem Zweifelsgrundsatz zugrunde gelegte – Blutalkoholkonzentration des Angeklagten mit 0,72 Promille noch deutlich von einem die Annahme absoluter Fahruntüchtigkeit rechtfertigenden Intoxikationsgrad entfernt und der hinzukommende Marihuanakonsum lag im Tatzeitpunkt bereits zwei Tage zurück. Die Polizeibeamten, die ca. eine Stunde nach dem Unfall mit dem Angeklagten befasst waren, haben keine alkoholtypischen Ausfallerscheinungen bei ihm bemerkt und der psychiatrische Sachverständige, dem die Kammer gefolgt ist, habe angenommen, dass eine „relevante Auswirkung des genossenen Alkohols“ auf die Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten auszuschließen sei, und dies mit dessen koordinativer Leistungsfähigkeit vor und nach dem Unfall begründet.
Darüber hinaus fehle es an Feststellungen zu dem üblichen sowie dem in der Tatnacht vor und nach der Kollision gezeigten Fahrverhalten des Angeklagten und einer Würdigung desselben. Eingedenk der Tatsache, dass zahlreiche nicht alkoholisierte Kraftfahrer vorgeschriebene Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht beachten und mit unangepasster Geschwindigkeit fahren, sowie der Urteilsfeststellungen zu den persönlichen Verhältnissen des Angeklagten, wonach er Alkohol nur gelegentlich konsumiert und nach dem hier gegenständlichen Tatgeschehen wegen zu schnellen Fahrens die Fahrerlaubnis entzogen wurde, wäre zu erörtern gewesen, ob er auch ohne einen seine Fahrfähigkeiten herabsetzenden Alkoholeinfluss zu Geschwindigkeitsverstößen neigte und welche Schüsse hieraus gegebenenfalls auf die Tat gezogen werden können. Ferner sei nicht ausreichend dargetan, wie sich die Verkehrssituation dem nicht ortskundigen Angeklagten darstellte, insbesondere ob das die Geschwindigkeit begrenzende Verkehrszeichen gut sichtbar oder etwa leicht zu übersehen war und ob sich die Gefährlichkeit der (nach den Feststellungen nicht vollständig mit einer durchgezogenen Linie markierten) Kurve einem – alkoholisierten, aber noch fahrtüchtigen – Fahrer auch ohne Wahrnehmung des Zeichens erschlossen hätte.
Der dargelegte Rechtsfehler führe in beiden Fällen zur Aufhebung des Schuldspruchs, die sich auf die für sich genommen rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen der weiteren, jeweils tateinheitlich zu der angenommenen Gefährdung des Straßenverkehrs bzw. Trunkenheit im Verkehr begangenen Delikte erstreckt.
Rechtsanwalt Steffen Dietrich, Fachanwalt für Strafrecht in Berlin-Kreuzberg